Eine Geschichte über Türken und die Bundesbahn

Es war ein Sommerabend. Mein älterer Bruder war aus Deutschland gekommen und erzählte uns über das Leben dort. Wir fragten ihn nach dem Arbeitsplatz meines Mannes, wie er arbeitete und wie er wohnte…bis ins kleinste Detail fragten wir, wollten alles wissen.
1967 war mein Mann nach Deutschland gegangen. Ich hatte nicht mitfahren wollen und war mit meinen beiden Kindern in Ankara geblieben. Auch mein Bruder – warum auch immer – wollte nicht, dass ich gehe. Mein Mann wollte ja sowieso nur zwei Jahre in Deutschland arbeiten und dann wieder zurückkommen.
Ein Jahr war vergangen, und ein Jahr nur noch musste ich aushalten. Ich wollte zwar nicht nach Deutschland, war aber doch neugierig auf das Leben dort. Als mein Bruder, der damals nicht wollte, dass ich nach Deutschland ging, zu mir sagte:

„Mädel, fahr lieber auch nach Deutschland mit deinem Mann“, überfiel mich Kummer, und die Neugierde verwandelte sich in Sehnsucht nach Deutschland.

Ich, mein Mann und die beiden Kinder beschlossen, nach Deutschland zu fahren und bereiteten uns darauf vor. Wir wollten mit dem Zug nach Deutschland fahren. Der Zug war voll von Menschen, die sich ebenso wie wir auf die Reise gemacht hatten. Die meisten sind Männer…es scheint, dass viele von ihnen ihre Familie zurückgelassen haben, um sich auf eine Reise zu machen, von der sie nicht wissen, wohin sie führt. Traurige, aber auch neugierige Gesichter…so wie unsere…
Nach einer angenehmen Reise kamen wir in München an. Hier mussten wir umsteigen. Wir kletterten aus dem Zug, die Koffer in den Händen, die Kindern an unsere Beine geklammert. Wir warteten. Mein Mann war ja schon hier gewesen; er würde bestimmt wissen, wo und wie wir weiterfahren müssten.
Ein Durcheinander von Stimmen, Tönen, Lärm war zu hören auf dem Bahnhof… Menschen, die zum ersten Mal hier waren, um Arbeit zu finden und andere, die schon seit längerem hier lebten… alle trafen sich hier, als hätten sie sich hier verabredet.

Mein Mann, der sich ein Stück von uns entfernt hatte, um sich nach der Weiterfahrt zu erkundigen, versuchte, uns mit Handbewegungen etwas zu erklären.
Gleichzeitig marschierte er mit schnellen Schritten immer weiter davon. Ich und meine beiden Kindern versuchten, ihn einzuholen, mit den Koffern in den Händen… Meine Tochter stolperte und fiel hin. Ich bückte mich und kümmerte mich um sie. Währenddessen lief mein Sohn seinem Vater nach…
Wann sind denn bloß mein Mann und mein Sohn in den Zug eingestiegen? Wann ist er denn nur mit ihnen abgefahren?… Alles ging so schnell, ich sah nur noch, wie der Zug schon fuhr! Mein Mann hing mit dem Kopf – ach was sagte ich – mit dem halben Körper aus dem Fenster und schrie etwas, das in dem Massentumult verloren ging, bevor ich es verstanden hatte. Der Zug war weg! Aus den Augen verschwunden…

Ich und meine Tochter blieben zuerst mit unseren Koffern wie festgenagelt stehen… dann ließen wir uns erschrocken und voller Angst leise auf die Koffer sinken. Wo um Himmels Willen sind wir? Wie werden wir uns verständigen? Bekannte? Hier ist doch nicht Ankara!
Der Kleidung nach zu schließen war es wohl ein Beamter, der sich auf uns zu bewegte. Er hatte es wohl mitbekommen, dass uns der Zug trennte. Er sagte irgendwas, versuchte, uns etwas zu erklären.

Aber es ist ihm nicht möglich, sich uns zu nähern, denn so wie er auf uns zukommt, beginne ich laut zu schreien:

„Geh weg! …Hau ab!“

Nach ein paar Versuchen wurde der Beamte von einer Beamtin begleitet. Ich wurde etwas stiller. Nun versuchten beide, uns etwas zu erklären: „Zug weiterfahren … Mann wartet.“ Meine Tochter schaute mich an, als wollte sie mich fragen:

„Was wollen die von uns, Mama?“

Nein… es ist nicht möglich. Wir können uns nicht verständigen. Nun sind wir hier ganz alleine. Verstehen die Sprache nicht, Geld haben wir nicht, Bekannte genau so wenig. Doch dann kamen zwei Menschen, dem Aussehen nach Türken, auf uns zu und fragten uns, was los sei. Sie fragten, ob ich alleine wäre, wo sich denn mein Mann aufhalte und ob sie uns helfen könnten. „Nein“, sagte ich, „geht weg!“. Als ich anfing zu schreien, waren die armen Männer schon längst verschwunden.

„Ach Mahmut, ach! Wenn ich dich wieder in die Finger kriege! Werde ich alles meinen Brüdern erzählen! Du wirst noch was erleben von mir!“

Zwei Beamtinnen kamen auf uns zu. Eine von ihnen sprach türkisch und sagte:

„Steigt in diesen Zug ein, dein Mann wartet an der nächsten Haltestelle auf euch.“

Gesagt hat sie das, aber wer schafft es, uns in den Zug zu bringen? Alle waren schon eingestiegen, und wenn doch auch wir endlich einsteigen würden, dann würde der Zug abfahren, aber…
Unsere Koffer haben sie in den Zug geschafft. Halb gezwungen, halb freiwillig sind wir eingestiegen, blieben da mit unseren Koffern stehen, setzten uns nicht hin, schauten nach draußen, wo wohl dieser Mahmut ist. Der Zug wurde langsamer, hielt an, und der Schaffner rief:„Hier aussteigen!“

Was sagen diese Leute schon wieder? Ich werde nicht aussteigen! Was ist, wenn Mahmut nicht hier ist? Was ist, wenn ich ihn nicht hier sehe? Was mache ich denn bloß, wenn ich meiner Tochter hier verloren gehe, hier in Deutschland! Komm, meine Tochter, wir werden nicht aussteigen! Nehmt eure Hände von unseren Koffern, bleibt weg von uns! Wo ist Mahmut? Wieso ist er nicht hier?
Alle steigen aus, wie sie eingestiegen waren. Und wieder wartete der Zug auf uns, so wie er auf uns gewartet hatte, als er losfahren sollte. Als wir nicht aussteigen wollen, mehrt sich mit jeder Minute die Zahl der Bediensteten.

Die Tür des Zuges bleibt offen. Alle Bediensteten im Zug und draußen rufen uns zu: „Bitte aussteigen!“ Nicht möglich! Bloß nicht näher kommen, sonst schreie ich!
Als eine Stimme „meine Frau hier“ sagte, sah ich zuerst Mahmut, dann meinen Sohn. Und schon lagen wir in ihren Armen.

„Oh, Mahmut! Nie hatte ich so sehr Sehnsucht nach dir! Komm, lass dich küssen… vergiss mich nie wieder auf Bahnhöfen!
Meinen Brüdern werde ich nichts davon erzählen…“

 

Von Hüseyin Ocar (Text)
und Kenan Ocar (Übersetzung)