Es war ein warmer Tag, als mich der Sozialarbeiter vom Krankenhaus anrief. Er teilte mir mit, dass ein ernsthafter Krankheitsfall vorliege und fragte mich, ob ich vorbeikommen könne. Wieder ein schwerer Krankheitsfall eines türkischen Arbeiters. Ich dachte darüber nach, wie sich solche schweren Krankheitsfälle in letzter Zeit häuften. Nun ja, zwanzig, dreißig Jahre sind nicht grade wenig. Arbeiten, immer wieder arbeiten, bis man zum Pflegefall wird. Aber ich kannte doch den Kranken nicht, vielleicht ist er ja neu in der Gegend oder hält sich als Gast hier auf.
Als mein Kollege und ich den Kranken besuchten, begegnete ich einem mittelgroßen, blonden Mann, dessen Haare ausgefallen waren. Als er uns sah, machte er sich etwas zurecht. Nach der Begrüßung und Vorstellung ließ uns der Kollege alleine. „Ich habe zwar Dein Büro ausfindig gemacht, aber Dich nicht erreichen können“, sagte er zu mir.

„Nun ja, jetzt haben wir uns ja getroffen und ich hoffe, dass wir uns auch in der nächsten Zeit sehen können. Ich bekomme hier so viele Medikamente. Wenn ich sie eingenommen habe, fühle ich mich so, als würde ich meinen Vater verlieren; ich kann mir sehr schwer die Tage merken. Ob Du mal mit der Ärztin sprechen könntest“. „Ja, es ist richtig. Mit der Ärztin müsste mal gesprochen werden; wir haben uns zwar schon mal kurz am Telefon unterhalten, ich werde aber jetzt zu ihr gehen und mich mit ihr unterhalten. Dann komme ich wieder zu Dir“, sagte ich und war im Begriff, ihn zu verlassen. Da hörte ich Muzaffer mit leiser Stimme zu mir sprechen: „Fragst Du sie bitte auch, ob meine Krankheit ansteckend ist?“.

Es war eine junge Ärztin. Als ich ihr Zimmer betrat, hatte sie viele Dokumente in ihren Händen, begrüßte mich und begann gleich über Muzaffer zu sprechen.

„Wir können nichts mehr für ihn tun. Was wir jetzt noch machen können, ist nichts, außer ihm die Schmerzen durch Strahlen- und Medikamentenbehandlung erträglich zu machen. Soviel ich weiß, lebt er hier allein. Falls er zu seiner Familie zurückkehren möchte, könnten wir alles Nötige sofort veranlassen. Ich denke, dass es für ihn besser ist, die kurze Zeit, die ihm noch bleibt, bei seiner Familie zu verbringen.“

Ja, das Ergebnis stand wohl fest. Und ich sollte das alles Muzaffer beibringen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich gezwungen, jemandem mitzuteilen, dass er nicht mehr lange Zeit zu leben hat. Nur, wie? Als ich sein Zimmer betrat, schaute er nach draußen.“ Die Schornsteine dieser Häuser dort machen wir. In unserer Fabrik werden sie hergestellt. Wer weiß, vielleicht habe ich sie sogar mit meinen Händen gemacht. Seit 1972 arbeite ich in der Fabrik. Ich wohne gleich in den Häusern nebenan. Auch viele andere Freunde sind dort. Sie sind auch so wie ich. Allein. Eben gerade habe ich mich mit meinem älteren Sohn in Usak unterhalten und ihm gesagt, dass ich im Krankenhaus bin. Sie werden alle traurig sein. Vor langer Zeit hat er geheiratet und ich habe mit ihm ein Geschäft gegründet. Auch ein Haus mit einem großen Garten habe ich…“ Während er alles dies erzählte, schaute er mich sehr aufmerksam an. Es war offensichtlich, dass er versuchte, etwas abzulesen.

„Ich habe mit der Ärztin gesprochen. Sie versuchen, Deine Krankheit mit Medikamenten und Strahlen zu behandeln. So ist es möglich, die Schmerzen zu stillen. Außerdem können Müdigkeit und Haarausfall als Nebenwirkungen der Medikamente, die Du nimmst, auftreten. Die Ärztin sagte, dass sie alles Nötige in Kürze veranlassen können, falls Du zu Deiner Familie zurückkehren möchtest.“

Mehr konnte ich nicht sagen. Muzaffer versank in Gedanken und seine Augen waren voller Tränen. Sich auf sein Bett setzend, sagte er: „Ja, es ist wohl das Beste, zurückzukehren.“ Und die Tränen liefen ihm über die Wangen.

„Es ist sehr schwer hier, so allein. In diesem kranken Zustand die Wäsche zu waschen, die Wohnung zu reinigen. Alles ist so schwer. Doch es ist wohl das Beste, die Rückreise für immer anzutreten. Aber es gibt doch so vieles zu erledigen, wer wird das denn alles tun? Ausländerbehörde, Krankenkasse, Einpacken…“.

Als jedoch alle rechtlichen und anderen Fragen geklärt waren und wir die Reise antreten konnten, waren wir beide etwas erleichtert. Als ich Muzaffer abholen wollte, hatte er schon sein Zimmer aufgeräumt und unterhielt sich mit seinen Freunden.

Zwei Koffer hatte er vollgepackt und nahm außerdem seinen Hut und seinen Regenschirm mit, obwohl das Wasser warm war. Die anderen Sachen, die er in seinem Zimmer hatte, in dem er sieben Jahre lang alleine gelebt hatte, musste er zurücklassen, er hat sie den Freunden überlassen.
Sehr schwer muss wohl der Abschied sein mit der Kenntnis dessen, dass man sich nie wieder sehen wird, zudem, wenn man siebzehn Jahre lang miteinander gelebt hat. So kam es auch. Es fiel Muzaffer sehr schwer, sich von den Freunden zu verabschieden. Als er in den Wagen einstieg, schaute er nicht einmal in Richtung der Fabrik. Den Hut auf dem Kopf, den Regenschirm in der Hand.

Nachdem wir unser Gepäck aufgegeben und im Flugzeug Platz genommen hatten, war Muzaffer wieder in Gedanken versunken. Er saß am Fenster und guckte nicht nach draußen. Nach dem Start spendierte er als erstes ein Bier. Dann wieder eins und noch eins. Den Hut behielt er weiterhin auf.

Als wir in Istanbul angekommen waren, wartete schon sein Sohn aus Usak auf uns. Nach kurzer Begrüßung trennten wir uns wieder, um uns zwei später erneut zu treffen. Als wir uns wieder trafen, hatte er noch mehr abgenommen und war älter geworden. In einem Kaffeehaus sprachen wir über die Behandlung der Krankheit und versuchten, die rechtlichen Fragen zu klären. Während des Gesprächs waren wir, der Sohn und ich, für einen Moment unter uns. So versuchte ich ihm die Wahrheit mitzuteilen. Er weinte. „Heute noch werden wir nach Usak zurück fahren. Falls es nötig sein sollte, kommen wir wieder zurück“, sagte er. Nun stand wieder der Abschied vor uns. Er fiel uns wirklich sehr schwer. Dennoch haben wir uns verabschiedet. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland erhielt ich jeden Monat Briefe von Muzaffer. Vielmehr wurden die Briefe von seinem Sohn verfasst und von Muzaffer unterzeichnet.
In seinen Briefen sprach er über die Behandlung, über seine Schmerzen, darüber, dass er sein Krankengeld nicht rechtzeitig bekommt, und er erzählte von seiner Reise von Istanbul nach Usak.
Im August 1990 erhielt ich einen Brief von Muzaffers Sohn. „Mein Vater ist verstorben. Am 10. August hat er sich von uns verabschiedet. Seine letzten Tage waren sehr schmerzvoll. Er hatte große Schmerzen. Eine Zeitlang fühlte er sich sehr wohl, wir bekamen wieder Hoffnung.“

Der Arbeiter Muzaffer, der von 1972 bis 1989 allein gelebt, seinen Sohn verheiratet, für ihn mit seinen Ersparnissen ein Geschäft gegründet, ein Haus mit einem großen Garten gekauft hatte, war verstorben.

Ob er sich in seinem Haus mit dem großen Garten innigst ausgeruht, in seinem Garten gearbeitet, mit seinen Enkeln gespielt hat? Ich weiß es nicht. Das einzige, was ich weiß, ist, dass Muzaffer, der seit seinem Haarausfall den Hut nicht mehr abnahm und den Schirm auch an warmen Tagen nicht mehr aus der Hand ließ, nicht mehr am leben ist.

Hüseyin Ocar
Sozialarbeiter, Koblenz
Übersetzt von Kenan Ocar