Zuwendung und Selbstbestimmung statt Psychopharmaka – AWO Seniorenzentrum Worms hat die Verordnungsquote drastisch reduziert

Laut dem AOK-Pflegereport erhalten rund 56 Prozent aller Heimbewohner in Deutschland Psychopharmaka. Im AWO Seniorenzentrum Remeyerhof in Worms sind es, dank eines Handlungsmodels zur Reduzierung von Psychopharmaka, nur 26 Prozent. Die Veröffentlichung des AOK-Pflegereports 2017 hat in der Pflegebranche und bei Patientenschützern für Zündstoff gesorgt: 54 Prozent der Heimbewohner/innen in Deutschland bekommen demnach Psychopharmaka, bei Menschen mit Demenz soll die Quote bei 47 Prozent liegen. Häufig würden demenziell erkrankte Bewohner/innen mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln (ruhiggestellt) weil Personal fehle, äußerte sich der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, gegenüber der Deutschen-Presseagentur.

Dass es auch anders geht, zeigen die jüngsten Erfolge des AWO Seniorenzentrums Remeyerhof in Worms. Mit lediglich 26 Prozent hebt sich die Einrichtung positiv vom Bundesdurchschnitt ab. Grund für die niedrige Verordnungsquote ist ein Handlungsmodel zur Reduzierung von Psychopharmaka in Seniorenzentren. Freiheit und Toleranz sind seit bald 100 Jahren gelebte Grundwerte bei der AWO, die auch in der Pflege einen hohen Stellenwert haben. „Die Menschen, die in unseren Einrichtungen leben, sollen sich lebendig und frei fühlen, es werden auch Verhaltensauffälligkeiten toleriert. Eine medikamentöse Beeinflussung des Verhaltens sollte immer der letzte Schritt sein, so kurz wie möglich eingesetzt und engmaschig kontrolliert werden“, erklärt Einrichtungsleiter Guido Gerdon.

In einem interdisziplinären Team aus Sozial- und Pflegedienstexperten, den behandelnden Fachärzten und den Angehörigen wird jede Verordnung regelmäßig hinterfragt, denn vor allem bei demenziell veränderten Menschen sind die negativen Nebenwirkungen nicht zu unterschätzen. So nennt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zum Beispiel eine erhöhte Mortalität, Verschlechterung der Blutversorgung des Gehirns, Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten und Suchtpotenzial. Auf der anderen Seite, sei bei einer Reduzierung der Psychopharmaka immer mit einer erhöhten Sturzgefahr zu rechnen, klärt Schneider auf.

„Über diese Risiken klären wir die Angehörigen auf, wägen gemeinsam ab und entscheiden einzelfallbezogen. Die Angehörigenberatung ist ein ganz wichtiger Aspekt“, betont Pflegedienstleiter Siegbert Schneider. Wichtig seien in diesem Kontext auch Maßnahmen zur Senkung der Sturzgefahr und des Verletzungsrisikos. Gefährdete Bewohner nehmen an einem Sturzpräventionstraining teil und stehen in speziellen Beschäftigungsprogrammen unter besonderer Beobachtung. Zudem sind die Zimmer mit Sturzmatten, extraniedrigen Betten und Klingelmatratzen ausgestattet. Darüber hinaus wird mit sozialer Betreuung, körperlichen Angeboten, Ergo- und Erinnerungstherapie eine Atmosphäre geschaffen, in der ein seelisches Gleichgewicht entstehen und wachsen kann.

„Sich zuhause fühlen, Wertschätzung und Selbstwirksamkeit erfahren, das sind Angstlöser und Stimmungsaufheller, die ganz ohne Nebenwirkungen funktionieren“, bestätigt auch Sozialdienstleiterin Ramona Nagel, die eng mit dem Pflegeteam um Siegbert Schneider zusammenarbeitet. „Das Handlungsmodel zur Reduzierung von Psychopharmaka funktioniert nur, wenn sich jeder Mitarbeiter mitverantwortlich fühlt und einfach anpackt, wenn es nötig ist. Im Remeyerhof ziehen alle Bereiche, von den Angehörigen, dem Pflege- und Sozialdienst über die Hauswirtschaft bis zum Küchenpersonal, an einem Strang. Auch die Nachbarschaft und die örtlichen Behörden sind informiert. Alle wissen, dass wir unseren Bewohner/innen die Möglichkeit geben, sich frei zu bewegen. Wenn jemand die Orientierung verlieren sollte und Hilfe braucht, können wir mit der Toleranz und der Unterstützung unseres Umfelds rechnen“, fasst Einrichtungsleiter Guido Gerdon zusammen.

Natürlich seien auch in Worms die Personalressourcen knapp, bestätigt Carina Weyrich, Pflegemanagerin beim AWO Bezirksverband Rheinland. „Die einrichtungsindividuellen Pflegeschlüssel sind eng bemessen. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich die Investition in Freiheit, Selbstbestimmung und menschliche Zuwendung immer auszahlt. Mit Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung lassen sich viele Abläufe mittelfristig effizienter und für alle Beteiligten angenehmer und erfüllender gestalten“, so das Fazit.