Heute bin ich früher als sonst wach geworden. Überhaupt habe ich kaum geschlafen. Ich fühle mich wie erschlagen. Heute ziehe ich um- ein letztes Mal in meinem Leben. Ich gehe durch mein Haus und schaue auf einzelne leere Stellen, an denen vorher Möbelstücke standen. Nach und nach ver-schwanden verschiedene Möbelteile und zeigten mir, dass kein Weg am Umzug vorbei geht. Ich schaue mich um und streichele über meinen geliebten Wohnzimmerschrank. Ich kann mich noch genau erinnern wann wir, mein Mann und ich, diesen gekauft haben. Wir haben ihn gehegt und gepflegt. Es ist ein gutes Stück. Was wird nun damit? Kommt nun alles, was uns wichtig und wertvoll war, auf den Sperrmüll? Das wäre bitter. Was bleibt noch übrig von unserem Leben?

Der Umzug muss sein, sagt meine Tochter, und ich werde sicher irgendwie klar kommen, ich bin ja immer irgendwie klar gekommen.

Mein Leben war nicht immer einfach. Als Nachkriegskind wurde mir nichts geschenkt. Alles was ich bin und habe, habe ich mir erkämpfen müssen. Jetzt gehe ich durch mein Haus, schaue in den Garten und ich empfinde Trauer. Abschied ist wie ein Stück Sterben. Mein Garten, wie habe ich die Stunden geliebt, die ich in ihm verbracht habe und wie stolz ich immer auf ihn war. Nun sieht er etwas verwahrlost aus. Ich habe es nicht mehr geschafft ihn zu pflegen. Wenn man jung ist, ist alles so einfach. Da hat man noch das Gefühl, dass es immer so bleibt. Mit zunehmendem Alter fällt vieles schwerer und man muss immer öfter um Unterstützung bitten. Um Hilfe zu bitten fällt mir sehr schwer. Darum bin ich auch gefallen. Meine Tochter hatte mir verboten auf die Leiter zu steigen. So weit ist es schon gekommen, dass die Tochter glaubt ihrer Mutter etwas verbieten zu können.

Mein Sturz von der Leiter hat meine Tochter veranlasst einen Heimplatz für mich zu suchen. Ich wollte nie in ein Heim. Wenn man jung ist und stürzt, wird dies als Schusseligkeit abgetan und ein mancher lacht darüber. Im Alter nennt man das dann Selbstgefährdung und veranlasst die Kinder dazu eine Heimunterbringung zu verordnen.

Ich bin traurig und schaue mich weiter um. Mein Blick fällt auf das kleine, etwas farblos gewordene Vogelhäuschen auf meiner Terrasse. Meine Vögel im Garten werden mir fehlen, auch wenn meine Tochter mir sagte, dass es in dem Heim einen schönen Garten und auch Vögel gibt. Es sind nicht die gleichen Vögel und es ist nicht mein Garten.

Was geschieht nun mit meinem Haus? Wird es verkauft? Wer zieht hier ein? Was habe ich mit meiner kleinen Familie für glückliche Stunden hier verbracht! Es gab auch schwere Zeiten. Während des Hausbaus hatten wir nie Geld. Alles mussten wir uns vom Mund absparen und Urlaub konnten wir uns auch nicht leisten. Aber wir hatten uns und waren stolz auf das, was wir uns geschaffen hatten. Nun muss ich das alles zurück lassen. Dabei habe ich immer gesagt, dass man mich hier nur mit den Füßen zu erst hinaustragen wird. Ich wünschte, ich könnte einfach tot umfallen, dann würde mir das, was nun kommt, erspart bleiben. So einfach ist es aber leider nicht.

Ich höre die Haustür klappen. Das ist sicher meine Tochter. Nun ist es also so weit. Was wäre, wenn ich mich in den Sessel setze und einfach nicht bereit bin aufzustehen? Was kann meine Tochter tun, wenn ich mich weigere in ihr Auto zu steigen? Nichts! Oder doch? Ich habe ja sonst niemanden, also muss ich mich arrangieren und tun was SIE für mich für richtig hält. Ob es in anderen Familien auch so ist, dass Kinder irgendwann entscheiden was für die Eltern gut und richtig ist?

Meine Tochter begrüßt mich freundlich, ich spüre dennoch ihre Anspannung. Ihr Lächeln wirkt wie eine Grimasse. Sie nimmt meinen Koffer und ich tappe hinterher. Auf dem Weg ins Heim sagt sie zu mir: „Mama, es wird Dir da gefallen“. Das sagt sie so daher ohne darüber nachzudenken, wie es ihr wohl ergehen würde, wenn man sie aus ihrem Haus holt und in ein Heim verfrachtet. Ganz sicher würde ihr das gefallen! Ich schüttele den Kopf. Umzug!

Als wir im Heim ankommen, parkt vor der Eingangstür ein schwarzer Kombi. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Es ist wohl doch nicht mein letzter Umzug, es ist mein vorletzter. Den letzten Umzug mache ich wohl in einer solchen Holzkiste, wie zwei Herren in schwarzen Anzügen eben zum schwarzen Wagen tragen. Ich schau ihnen zu. Meine Tochter räuspert sich und zieht mich durch die Eingangstür. Ich hätte den beiden Herren gerne noch zugeschaut. Mir macht der Tod schon lange keine Angst mehr.

Ich setze mich in das Foyer auf einen der zahlreichen roten Ledersessel, die in U- Form vor der Verwaltung stehen und schaue mich um. Eine Schildkröte in einem Wasserbecken planscht vor sich hin und glotzt mich an. Ob sie sich ebenso einsam und verlassen fühlt, wie ich gerade jetzt? In der Ecke steht ein Puppenwagen mit einer alten Puppe. Wer den hier wohl vergessen hat?

Meine Tochter ist in der Verwaltung – die Tür ist geschlossen. Wer weiß was die da miteinander ausbrüten. Was soll`s, schlimmer kann es nicht kommen. Ich beobachte vorbeilaufende oder vielmehr eher wie Schnecken kriechende alte Menschen an Rollatoren. Einer hat sogar seinen Urinbeutel daran befestigt. Das finde ich eklig. Na so weit bin ich, Gott sei Dank“ noch lange nicht!

Meine Tochter kommt mit einer jungen Frau aus der Verwaltung. Die junge Frau begrüßt mich freundlich und heißt mich herzlich Willkommen. Ich grüße höflich, kann mich jedoch zu keinem Lächeln aufraffen.

In der zweiten Etage werden wir von der jungen Frau zu „meinem Zimmer“ gebracht. An der Zimmertür steht mein Name. Ich betrete das Zimmer und freue mich nun doch meine bereits vermissten Möbelstücke hier zu finden. Ich sehe mich um und stelle fest, dass meine Tochter sich viel Mühe gegeben hat mein Zimmer einzurichten. Sie schaut mich erwartungsvoll an und sagt „Ist doch schön hier!“ Ich reagiere nicht, denn ich will ihr den Umzug nicht verzeihen. Meine Welt ist klein geworden und angesichts des Pflegebettes im Zimmer wird mir meine schwierige Situation noch bewusster.

Ich versuche meine Tränen zurückzuhalten und fange an zu schniefen. Ich stelle ich mich ans Fenster und schaue hinaus in den Garten, so sieht mich meine Tochter nicht weinen. Zugegeben der Garten ist schön. Große alte Bäume mit Walnüssen, ein Brunnen plätschert lustig vor sich hin, Bänke und ebene Wege. Der Garten ist sehr gepflegt und es könnte mir schon gefallen da draußen zu sitzen. Aber ich will nicht, dass mir hier auch nur irgendetwas gefällt.

Meine Tochter räumt meine Kleider in den Schrank. Es ist, als ob wir uns nichts mehr zu sagen hätten. Was soll ich auch dazu sagen? Es ist jetzt so, wie es ist. Leider.
Meine Tochter steht etwas verloren im Zimmer und fast tut sie mir leid. Sie kann ja nichts dafür, dass ich alt geworden bin. Sie sagt sie müsse jetzt gehen, weil sie mit der Wohnbereichsleitung noch einige Formalitäten abzuklären habe und dann auf die Arbeit müsse. Ich antworte knapp und etwas patzig: „Dann musst Du das tun.“

Jetzt bin ich allein. Und genau so fühle ich mich. Keine Ahnung wie es hier weiter geht. Ich setze mich in meinen Sessel und warte.
Scheinbar bin ich eingenickt, denn vor mir steht eine junge Frau, die mich sanft am Oberarm berührt. Sie stellt sich als „Schwester Simone“ vor, begrüßt mich freundlich und sagt es gibt gleich Mittagessen und sie würde mir gerne zeigen wo.

Der Tag vergeht irgendwie und ich wundere mich darüber. Heute Mittag hat es noch Krach gegeben, als Simone mich an einen Tisch mit drei weiteren Damen brachte und mich denen vorstellte. Scheinbar war ich den Damen nicht willkommen, denn sie meinten der mir zugewiesene Platz sei der von Erna. Die Schwester erklärte den Damen dies sei nun mein Platz und sie würden ja wissen, dass Erna diesen Platz nicht mehr braucht. Ob sie es war, die in der Holzkiste lag, die heute Morgen aus dem Haus getragen wurde? Ich frage nicht nach. Von den Damen an meinem Tisch kam kein Wort. Sie schienen nicht erfreut über meine Anwesenheit. Dabei hätte ich selbst gerne auf meine Anwesenheit dort verzichtet. Na das ging ja gut los.

Nach dem Mittagessen habe ich mich in mein Pflegebett gelegt und ich habe dann auch fest geschlafen. Der Umzug in mein neues Leben war wohl doch etwas anstrengend. Gegen Drei kam dann eine Dame in mein Zimmer und stellte sich vor. Sie käme aus der „sozialen Betreuung“ und würde sich gerne mit mir unterhalten. Sie war nett und erklärte mir, welche Angebote im Haus gemacht werden. Einiges finde ich schon interessant, aber habe erst einmal abgelehnt. Eigentlich will ich an nichts teilnehmen, eigentlich will ich mich hier nicht eingewöhnen und schon gar nicht wohl fühlen und eigentlich will ich hier nicht sein.

Die erste Nacht in meinem neuen zu Hause. Ich habe erstaunlich gut geschlafen. Etwas gestört hat mich die Nachtwache, die mehrmals nach mir gesehen hat. Ich habe einen leichten Schlaf, bin aber immer wieder eingeschlafen.

Ein neuer Tag. Wie viele Tage bleiben mir noch oder wie viele Tage muss ich noch bleiben?
Eine Schwester kommt in mein Zimmer und bietet mir Hilfe bei meiner Morgentoilette an. Ich schaue sie erstaunt an und sage ihr, dass ich das gut noch allein kann und mich auch weiterhin selbst waschen und anziehen möchte. Die Strümpfe und die Schuhe anzuziehen ist nach meinem Sturz etwas mühsam geworden, aber ich habe ja alle Zeit der Welt. Also schicke ich die Schwester wieder weg und ich habe das Gefühl, dass sie erleichtert darüber ist. Sie sagt ich soll klingeln, wenn ich Hilfe benötige. Das ist nett von ihr, überhaupt sind hier alle sehr freundlich, dennoch werde ich versuchen so lange wie es geht noch ein, wenn auch etwas eingeschränktes, doch selbstständiges Leben zu führen.

Irgendwie sieht die Welt heute schon etwas weniger schwarz aus. Sagen wir mal sie sieht grau aus. Noch immer wäre ich lieber daheim. Die Trauer um den Verlust meines zu Hause ist nicht wegzubekommen. Es wird wohl noch eine Weile dauern.

Die Damen an meinem Tisch haben sich auch mit mir abgefunden. Sie versuchen mit mir ein Gespräch zu beginnen, aber jetzt will ich nicht und antworte nur höflich aber einsilbig auf ihre Annäherungsversuche. Eine der Damen sagt es sei gleich Lesekreis und fragt ob ich nicht Lust hätte mitzukommen. Ich höre mich mit „Ja“ antworten und bin selbst erstaunt darüber. Was soll ich auch allein im Zimmer sitzen? Ich bin ja schon jahrelang allein gewesen und Ablenkung könnte mir durchaus gut tun. Der Lesekreis ist dann doch recht nett. Ich musste mehrmals schmunzeln, da die alte Dame, die da als Vorleserin fungiert etwas verwirrt scheint. Ist sie auch eine Bewohnerin? Egal, die meisten der anderen Teilnehmer oder auch Bewohner sind freundlich und neugierig. Eine der Damen kenne ich sogar, sie hatte früher mit ihrem Mann die Bäckerei gleich bei mir um die Ecke.

Guck an, auch sie hockt nun hier. Wir kommen sofort ins Gespräch und verabreden uns auf ein Schwätzchen nach dem Lesekreis. Vielleicht wird es hier doch nicht so schrecklich, wie gedacht.

Am Nachmittag kommt meine Tochter. Sie bringt mir Blümchen und eine Flasche Weißwein mit. Sie weiß dass ich Blümchen und mein abendliches Weinschörlchen liebe. Aber ich will ihr noch nicht verzeihen, dass sie mich hier hergebracht hat. Sie fragt was ich den Tag über gemacht habe. Ich sage ihr nicht dass ich eigentlich Spaß hatte und mich wunderbar mit der Bäckersfrau unterhalten habe. Sie darf ruhig noch ein bissel leiden.

©Birgit Mai